Preußen und der Extremismus
In der veröffentlichten und öffentlichen Meinung halten viele Preußen für eine Sache der Rechtsradikalen. Bei Demonstrationen auf dem Soldatenfriedhof Halbe (wo die Toten der letzten Schlacht um Berlin 1945 liegen) am Volkstrauertag taucht immer wieder ein dafür gebildeter Zusammenschluß von rechtsradikalen Gruppen unter dem Decknamen „Preußen“ als Veranstalter auf.
Da sie die Hakenkreuzflagge nicht zeigen dürfen, lassen die Radikalen von rechts die Reichskriegsflagge wehen. Dieses von Preußen beeinflußte schwarz-weiß-rot bestimmte Symbol des Kaiserreichs gilt seit einiger Zeit amtlich als radikal und darf nicht mehr öffentlich gezeigt werden. Die Ultras haben es geschafft, ein Symbol des Kaiserreichs (das sich im Übergang von der konstitutionellen in eine parlamentarische Monarchie befand) zu brandmarken.
Preußen, das bis 1819 stets als moderner Reformstaat galt und auch danach die Modernisierung auf seine Fahne geschrieben hatte, wird heute als reaktionär und rechts bis rechtsradikal betrachtet.
Seit kurzem betrachtet man in den Berichten zum Verfassungsschutz die Rechtsradikalen für gefährlicher als die Linksradikalen. Jahrzehnte hindurch galt eher das Gegenteil. Die Rechtsradikalen sind heute wohl eher gewaltbereit. Ihnen fehlt aber so gut wie jeder intellektuelle Unterbau und eine breite „Szene“ von Unterstützern. Solche Hilfstruppen stehen den Linksradikalen zur Verfügung; bis 1989 hatten sie sogar die Unterstützung der Marxisten von der Stasi.
Vielleicht kann man sich darauf einigen, daß die Extremen von links und rechts nicht weit von einander entfernt sind und Berührungszonen haben. Sie wollen die Vernichtung, den Umsturz von Staat und Gesellschaft. Parolen und Symbole sind austauschbar.
Preußen hat mit derlei nichts zu tun. Die Kriegspropaganda des Ersten Weltkriegs hat Preußen in diesen Zusammenhang gebracht und mancher Intellektuelle betet die damaligen Pamphlete und Hetzparolen nach, ohne zu ahnen, woher der Blödsinn stammt.
Preußen stand seit dem Augenblick seiner Geburt, der Königskrönung am 18. Januar 1701 in Königsberg, unter der Devise: Suum cuique. Mit „Gerechtigkeit gegen jedermann“ wird suum cuique, „Jedem das Seine“ in den Statuten des damals gestifteten Schwarzen Adler Ordens wiedergegeben. Gerechtigkeit gegen jedermann bedeutet nach Friedrich dem Großen, daß vor den Schranken des Gerichts, vor Recht und Gesetz jeder gleich ist: sei er ein Prinz, ein Bauer, ein Bettelmann oder gar der König selbst. Das war nicht nur Theorie. Unter Friedrich dem Großen wurden Entscheidungen des Königs und der Behörden von Gerichten geprüft. Das war der Anfang der Verwaltungsgerichtsbarkeit.
Wie allgemein bekannt, konnte in Preußen „jeder nach seiner Facon selig werden“. Im konkreten Fall von 1740 ging es darum, daß auf Wunsch der Eltern in Berlin und Potsdam katholische Schulen für katholische Soldatenkinder, die s. Zt. Friedrich Wilhelm I., der überragende Bürger- und Soldatenkönig, errichtet hatte, weiter bestehen sollten. Hier wurde das Elternrecht auf Erziehung geschützt. Hier wartete kein pädagogischer Übermut, der die rückständigen Eltern gängeln will (wie häufig heutzutage), noch ministerielle Willkür gegen Privat-Meinungen und Privat-Schulen. Preußen, das erste große Land der Welt, in dem die allgemeine Schulpflicht (für Mädchen und Jungen) galt (ab 1717) und durchgesetzt wurde (etwa um 1750 flächendeckend), war auch das erste Land der Reigionsfreiheit. Freiheitlicher Rechtsstaat, Religionsfreiheit und freie Bildung – all das wollen die Extremisten nicht. Wie man spätestens im Jahre 1968 lernen konnte, geht es ihnen wie den Kommunisten und den Nationalsozialisten um eine Erziehungsdiktatur.
Die vielen Lehrern bekannte Behauptung, in Preußen habe man Unteroffiziere zu Lehrern gemacht, stimmt nicht. Es gibt nur einen einzigen Fall, wo dieser Versuch zur Zivilversorgung von Soldaten gelang.
Preußen hat auch nichts mit der Ächtung von fremden Sprachen und Religionen zu tun. Im gleichen Jahr 1740 schrieb Friedrich, der bald von seinem Volk „der Große“ genannt wurde: „Und wenn Türken und Heiden kämen und wollten das Land pöplieren (bevölkern), so wollen wir sie Mosquen und Kirchen bauen lassen“. Hier ging es nicht um ungehemmte Zuwanderung, man nahm keineswegs jeden auf, der Asyl begehrte. Nur wer bereit war, dem König von Preußen Treue zu schwören, konnte preußischer Bürger werden. Die Anwendung auf heute ist nicht schwer. Wenn Ausländer bereit sind, die deutsche Staatsangehörigkeit anzunehmen, können sie ihre religiöse Überzeugung frei entfalten.
Im wesentlichen wird Preußen heute von den Egoisten und Selbstverwirklichern abgelehnt. Wer die Person vor die Sache stellt und mehr scheinen will als er ist, kann Preußen nur bekämpfen.
Mit Preußen haben Extremisten, die das Recht verletzen und Gäste in unserem Land quälen, nichts zu tun. Vor Mißbrauch ist kein Begriff geschätzt – schon gar nicht Preußen.
Preußen und das nationale Prinzip
Preußen gilt heute für viele Intellektuelle als nationalistisch, rechts bis rechtsradikal. Zwar gehört das Kaiserreich in die weltweite, im Grunde noch heute anhaltende Epoche des Nationalismus, aber das alte Preußen hatte mit dem Nationalismus nichts zu tun. Was nach 1871 nationalistisch war, kam von 1848 her und gerade nicht von Preußen. Seinen angeblichen „Beruf“, die Einigung Deutschlands, entdeckten Preußen und sein König erst im März 1848.
Die Gleichsetzung Preußens mit dem Nationalsozialismus findet sich immer noch bei Linksintellektuellen. Dabei kam kein führender Nationalsozialist aus Preußen. Selbst die Gauleiter in den preußischen Provinzen waren Importe aus dem Süden (der von Pommern hieß nicht zufällig Schwede-Coburg) und Westen.
Das alte Preußen war nicht nur der erste Staat der Religionsfreiheit, sondern es war auch ein Staat, der Menschen verschiedener Sprache offenstand. Der eine meiner beiden schlesischen Urgroßväter kam aus der tschechischen Sprachinsel Hussinetz (bei Strehlen, südlich von Breslau), wo Friedrich der Große Böhmische Brüder angesiedelt hatte. Sie waren als tschechisch-sprachige Evangelische 1745 dem konfessionellen Druck Maria Theresias gewichen. In Preußen hatten sie sich mit ihrer Forderung, zusammen zu siedeln, um Konfession und Sprache zu erhalten, durchgesetzt.
Das galt bis zur Vertreibung durch die Polen nach 1945. Neben dem Urahnen Stribrny steht der Urahn Prusse. Dieser wahrhafte Preuße predigte bis zu seinem Tode im Jahre 1901 als evangelischer Pfarrer jeden Sonntag in polnischer und in deutscher Sprache in Mangschütz Kreis Brieg. Zuvor war er am Königlichen Evangelischen Lehrerseminar in Kreuzburg (Oberschlesien) tätig.
Von Dozenten für die polnische Sprache wurden hier doch Lehrer ausgebildet, die in Dörfern mit polnischer Haussprache Kinder auf polnisch behutsam mit der deutschen Sprache vertraut machen sollten. In der 1900 gedruckten Geschichte seines Pfarrdorfs bekannte sich Prusse begeistert zu den Hohenzollern und ging auf die polnischen Wurzeln seines Dorfes gründlich ein. 1960 erschien in Litauen im Faksimiledruck ein vorzüglich ausgestattetes Buch, in dem der auf litauisch gedruckte Text zweisprachiger preußischer Verordnungen reproduziert wurde. Nach außen gab man das den Sowjets gegenüber als sprachkundliche Publikation aus. Tatsächlich wollte man zeigen, welche sprachliche Freiheit im Herzogtum und Königreich Preußen herrschte. Die Moskauer Unterdrücker der litauischen Kultur merkten dann bald, welcher Spiegel ihnen hier vorgehalten wurde und verboten das heute seltene Buch. Immanuel Kants Großvater war in der Stadt Memel Dolmetscher für die litauische Sprache und half der litauischen Landbevölkerung amtlich dabei, vor den königlichen Gerichten ihr Recht zu erhalten.
Allen sind die Hugenotten bekannt. Und selbst Menschen, die nur wenig von Preußen und über Preußen wissen (wissen wollen), sagen, daß man Toleranz gegenüber den Hugenotten wahrte. Dabei wird immer übersehen, daß den Hugenotten die Flucht über die bewachten französischen Grenzen streng verboten war. König Ludwig XIV., dem damals mächtigsten Mann Europas, trat das kleine Brandenburg-Preußen mit dem Edikt von Potsdam 1685 offen entgegen. Man wußte nicht, wie viele Hugenotten sich nach Brandenburg durchschlagen würden und mit welchen Fähigkeiten sie begabt wären. Für sie mußte viel Geld investiert werden.
Wichtiger als Toleranz einer kleinen Minderheit gegenüber ist die wirkliche Religionsfreiheit, die Preußen als erster moderner Staat realisiert hatte. Als nach der Annektion Schlesiens (1742) eine erhebliche Zahl Katholiken mit der damals mehrheitlich evangelischen Provinz Preußen wurden, mußte sich die Religionsfreiheit bewähren.
Mit der Annektion Westpreußens und des Netzedistrikts ( 1772) mußte sich in erster Linie die Offenheit gegenüber der polnischen Sprache, die dort auf dem Lande teilweise vorherrschte, bewähren. Symbol dieser Haltung ist die Berliner Hedwigskirche: die heutige Hedwigskathedrale des Erzbischofs von Berlin wurde von Friedrich dem Großen zwischen dem Stadtschloß und dem Opernhaus in Berlins Mitte geplant. Er schenkte das Grundstück. Genannt wurde die Kirche nach der heiligen Herzogin von Schlesien, geweiht wurde sie vom ermländischen Fürstbischof Ignatius Krasicki im Jahre 1773. Bischof Krasicki, ein polnischer Dichter, der nunmehr preußischer Untertan war, gehörte zur Tafelrunde Friedrichs des Großen und lebte zeitweise in Potsdam, wo er auch starb. Keine andere europäische Hauptstadt hat in ihrem Zentrum eine derart repräsentative Kirche einer Minderheitskonfession!
Preußen war offen für andere Sprachen und Konfessionen. Der preußische Staatsgedanke, der einzige, den Deutschland hervorgebracht hat, ist übernational. Mit Nationalismus hat Preußen nichts zu tun.
Prof. Dr. Wolfgang Stribrny, Bad Sobernheim